Im Osten Südtirols bestechen das grüne Pustertal und die markanten Bergformationen der Dolomiten durch ihre natürliche Schönheit und die vielen Möglichkeiten für Naturliebhaber.
TEXT Ella Authier | FOTO IDM Südtirol: Andreas Mierswa, Hannes Niederkofler, Harald Wisthaler (von links nach rechts)
Das Leben in den Bergen war seit jeher rau und entbehrungsreich. Der Kälte und dem Schnee zum Trotz lernten die Menschen, als Selbstversorger mit wenig über den langen Winter zu kommen und im Sommer aus Ackerbau und Viehzucht wertvolle Reserven zu gewinnen und anzulegen. Über viele Jahrhunderte lebte die große Mehrheit der Bevölkerung des Pustertals und der Dolomiten von den bescheidenen Erträgen der Berglandwirtschaft.
Es wuchs nicht viel auf den kargen Talböden und Berghängen: Kartoffeln, Kraut, Rohnen (Rote Bete), Mohn, Kohl, gelbe Rüben, Gerste und Roggen. Doch die Menschen machten aus der Not eine Tugend. Aus dem, was ihnen zur Verfügung stand, schufen sie eine herzhafte und boden- ständige Küche mit Speck, Knödeln und Schlutzkrapfen. Aus diesem Teil Südtirols kommen die bekannten Pusterer Tirtlan, eine Art in Öl gebackene runde Krapfen, gefüllt mit Spinat und Topfen (Quark). Fleisch war früher eine seltene Köstlichkeit. Geschlachtet wurde nur einmal im Jahr, meistens das Hausschwein, an Weihnachten. Um Lebensmittel haltbar zu machen, musste man sie kochen (daher das viele Sauerkraut in der Pustertaler Küche) und das Fleisch suren (pökeln) oder selchen (räuchern). Beim Suren wird das Fleisch mit Salz und Gewürzen behandelt, beim Selchen wird es anschließend in den Ka- min eines Holzofens gehängt und im Rauch getrocknet.
Seit Generationen ist das Pustertal das Kartoffelgebiet in Südtirol und eines der wichtigsten in Italien. Hier gedeihen die „Pusterer Bergkartoffeln“ von unverwechselbarem Geschmack, ein wichtiges Südti- roler Qualitätsprodukt. Angebaut werden sowohl Saatkartoffeln als auch Speisekar- toffeln. Ob rund, länglich, weiß, strohgelb, rot und auch violett oder blau – die „Pusterer Erdäpfel“ zählen zu den beliebtesten Grundnahrungsmitteln in Südtirol. Ansehnlich ist auch die Pustertaler Ernte von Roter Bete, Salaten, Kohl und Getreide. Das Südtiroler Pustertal erstreckt sich zwischen Alpenhauptkamm und Dolomiten von der Mühlbacher Klause bis zur österreichischen Staatsgrenze bei Winnebach im Osten. Zu den größten Seitentälern zählen das Ahrntal und das Antholzertal. Im 6. und 7. Jahrhundert wurde die Gegend von den Bajuwaren besiedelt, weshalb die Dialekte der Täler zur bairischen Dialektfamilie gehören. Im Pustertal und in seinen Nebentälern (außer Gadertal) finden sich aufgrund der relativ frühen germanischen Besiedlung die meisten deutschstämmi- gen Hof-, Flur- und Ortsnamen in Südtirol. Die Pustertaler gelten als tüchtig und innovativ. Tirols berühmteste Gastwirtin, Emma Hellenstainer, bewirtete im Gasthaus „Schwarzadler“ in Niederdorf im Hochpustertal nicht nur die damals typische Kundschaft von Fuhrleuten und Durchreisenden, sondern setzte auf den um die Mitte des 19. Jahrhunderts aufblühenden Tourismus. Frau Emma verfeinerte die bodenständige Pustertaler Kost durch die Einführung der gehobenen Standards der Biedermeierküche, ebenso verbesserte sie die Ausstattung der Zimmer. Ihren später legendär gewordenen Ruf erwarb die Wirtin durch ihre Qualitäten als charmante und liebenswerte Gastgeberin. Sie war die erste Touristikerin, die in internationalen Zeitungen inserierte. Am meisten zu ihrer Bekanntheit trug wohl die Geschichte bei, dass ihr eine Postkarte aus Übersee zu- gestellt wurde, die nur mit den schlichten Worten „An Frau Emma in Europa“ adressiert war.
Seit jener Zeit haben sich das Pustertal und langsam auch dessen Seitentäler, wie das Gsieser Tal, das Antholzer Tal und das Tauferer Ahrntal, touristisch gut entwickelt. Im schmucken Bruneck, dem wirtschaftlichen Zentrum des Tales, pulsiert das Leben, und zwar nicht erst, seit Rein- hold Messner in Schloss Bruneck sein fünftes Messner Mountain Museum, das MMM Ripa, eröffnete. Auf Brunecks Hausberg, dem Kronplatz, wo sich im Winter jeden Tag Tausende Skifahrer tummeln, hat der berühmte Südtiroler Bergsteiger sein sechstes Museum geschaffen, das MMM Corones. Für den unverwechselbaren Museumsbau zeichnete keine Geringere als die irakisch-britische Architektin Zaha Hadid verantwortlich. Von hier geht der Blick in alle vier Himmelsrichtungen über die Landesgrenzen hinaus: von den Lienzer Dolomiten im Osten bis zum Ortler im Westen, von der Marmolada im Süden bis zu den Zillertaler Alpenn im Norden. Reinhold Messner ist am Kronplatz in bester Nachbarschaft: Haubenkoch Norbert Niederkofler hat sich auf 2.240 Metern Meereshöhe mit seinem „Cook the Mountain“-Restaurant AlpiNN einen Traum erfüllt. Hier ist der Besucher sowohl logistisch als auch kulinarisch dem Himmel sehr nahe. Und weil aller guten Dinge drei sind, sollte man einen Blick in das angrenzende Museum für Bergfotografie LUMEN nicht verpassen.
Niederkoflers Spuren führen notgedrungen ins Gadertal, das von St. Lorenzen nahe Bruneck bis zur Sellagruppe in den Dolomiten reicht. Im Restaurant „St. Hubertus“ in St. Kassian kreiert der Chef über all die Jahre eine Küche, die im perfekten Einklang mit dem Rhythmus der Natur, mit der Umwelt und deren Bewohnern steht. „Meine Gerichte sollen Geschichten erzählen: von den Bergen, von der täglichen Mühe der Bauern und der Tierzüchter, von der Qualität ihrer Produkte, von überlieferten Traditionen, Sorgfalt, Beständigkeit und Leichtigkeit“, erklärt Spitzenkoch Niederkofler.
In den Dolomiten-Tälern Gadertal (mit Alta Badia) und Gröden gelang es einer Urbevölkerung, ihre Kultur und Sprache zu erhalten. Das Ladinische ist rund 2000 Jahre alt und eine Mischung aus Rätischem und Volkslatein. Auf den Ortsschildern des Gader- und Grödnertales finden sich ladinische, italienische und deutsche Namen. Für die Menschen, die hier leben, ist es eine Selbstverständlichkeit, dreisprachig aufzuwachsen. Die ladinischen Täler, einst bitterarm und von der Außenwelt abgeschottet, haben sich längst zur Top-Urlaubsdestination im höheren Segment für ein internationales Publikum entwickelt. Die Dolomitensagen der Ladiner zählen zum Südtiroler Kulturschatz und zeugen von der Magie des Landes im Gebirge. Die Sage von Dolasilla rankt sich um beraubte Zwerge, einen Silbersee, unfehlbare Zauberpfeile, einen wertvollen Edelstein, ihren Vater, den goldgierigen König, und die Entscheidungsschlacht auf der Pralongià, die die Kriegsheldin der Fanes-Menschen Dolasilla nicht überlebt. Was aber bleibt, ist ihr Mythos und der Zauber, der von den einzig- artigen Felsformationen und atemberaubenden Dolomitenlandschaften ausgeht. Die Dolomiten sind Berge aus versteinerten Algen- und Korallenriffen. Architekt Le Corbusier nannte sie „das schönste Bau- werk der Welt“. Dank ihrer einzigartigen monumentalen Schönheit und ihrer geologischen sowie geomorphologischen Bedeutung wurden die „Bleichen Berge“ im Jahr 2009 zum UNESCO Weltnaturerbe erklärt. Die Auszeichnung verlangt großen Respekt und zusätzliche Anstrengungen, die Natur zu schützen. Paradoxerweise zieht sie auch viele Touristen aus aller Welt an, die die sogenannten Hotspots nur für ein paar Stunden auf der Suche nach dem einen Motiv anpeilen, um der Welt auf Instagram zu zeigen, dass man da war. Doch eine Stunde reicht niemals, um sich der Stille und wunderbaren Weite der Seiser Alm zu öffnen, auch nicht ein Tag. Vom Erlebnis eines Sonnenaufgangs am Tierser Alpl oder am Schlern wird man lange zehren, ebenso wie von den endlosen Wanderungen oder anspruchsvollen Bergtouren in endloser Natur. Schön ist, wenn man dann auf einer Berghütte mit zünftigen Knödeln mit Krautsalat, Speck, Käse und Schüttelbrot oder einem klassischen Kaiserschmarrn belohnt wird. Und wenn Maria auf der sonnigen Terrasse der „Rauchhütte“ mit atemberaubenden Blick auf Lang- und Plattkofel dann charmant nachfragt, ob’s noch ein Glas sein darf, verlangt das nach Ewigkeit.)