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TEXT I FOTOS Nick Pulina
G&M-Redakteur Nick Pulina reist in ein 800-Seelen-Dorf in Südfrankreich und erlebt dort eine Weindegustation der anderen Art
Es ist ein eigenartiges Gefühl, die A9 zwischen Avignon und Perpignan auf halber Höhe zu verlassen. Landeinwärts geht die Reise über platanengesäumte Alleen mitten ins Herz des Midi. Weniger romantisch veranlagte Menschen würden sagen: tief hinein ins Nirgendwo. Siran heißt die 800-Seelen-Gemeinde, für die ich touristische Perlen wie Carcassonne und Minerve links liegen lasse. Der im Südosten der Region Okzitanien gelegene Flecken hat alles, was ein südfranzösisches Dorf ausmacht: eine spätgotische Kapelle, einen malerischen Dorfplatz samt plätscherndem Brunnen und kleine verwinkelte Gässchen, die eher an ein Filmset als an einen internationalen Melting Pot erinnern. Doch genau das ist Siran: Ein Ort, in dem Menschen aus über 25 verschiedenen Nationen friedlich zusammenleben – und das mitten im tiefsten Le-Pen-Gebiet.
„Salut Nick, wie organisieren Anfang August eine Weindegustation in Siran. Hättest du Lust zu kommen“, lud mich mein Freund Pierre Moissonnier eines Tages hierher ein. Pierre ist kein Unbekannter in der deutschen Gourmetszene. Bevor es ihn und seine Frau im Jahr 2017 ins Languedoc verschlug, leitete der gebürtige Lothringer zwanzig Jahre lang als Küchenchef und Inhaber das vielgelobte französische Restaurant ‚La Mirabelle‘ in Hamburg. Kein Wunder also, dass er sich auch nach seinem Umzug nach Siran schnell zu einer festen Anlaufstelle für Genießerinnen und Genießer jedweder Couleur entwickelte. Dass auch ich nicht lange zögerte und seiner Einladung umgehend Folge leistete, liegt auf der Hand.
Nur die Einheimischen fehlen
„Weißt du, Nick“, erzählt mir Pierre am Abend meiner Ankunft bei himmlischen gefüllten Calamari und einem Glas Rotwein, „in Siran wohnen Leute aus Deutschland, Irland, dem UK, Kanada, den USA und so weiter. Wir verbringen alle viel Zeit zusammen. Wer aber so gut wie nie dabei ist, sind die alteingesessenen Einheimischen. Und das ist doch schade! Da hat man so eine kulturelle Vielfalt vor der eigenen Tür und dann zieht man sich zurück und will nichts davon wissen. Das wollen wir mit dem Weinfest ändern.“
Kurzerhand tat sich Pierre also mit einigen weiteren Locals zusammen und organisierte ein Weinfest, das die Fronten durchbrechen und gleichzeitig Siran und den umliegenden Weinbau in den Fokus rücken sollte. Denn im kompletten Nirgendwo liegt Siran eben auch nicht, die Grand-Cru-Region Minervois La Livinere umgibt das Dorf und macht es zu einem florierenden Weinbauort.
22 Weingüter luden Pierre und seine Mitstreiter zu diesem Weinfest der anderen Art ein: Anstatt wie sonst üblich einfach alle Winzerinnen und Winzer auf dem Marktplatz oder in einer Mehrzweckhalle hinter Stände zu stellen, wurde für die Siraner ‚fête du vin‘ eine Art Rundkurs durch das Dorf errichtet. Im Abstand von knapp 50 Metern – so groß ist es hier dann eben auch nicht – wurden Stände errichtet und Weingüter platziert.
Bloß das Glas nicht verlieren!
Ich betrete den Rundkurs über den offiziellen Eingang, wo ich um zehn Euro erleichtert und dafür mit einem Glas ausgestattet werde. „Damit kannst du überall alles probieren. Verlier es nur nicht“, gibt mir Pierre noch mit auf den Weg und schon durchschreite ich das Tor in die Kulisse eines Disneyfilms.
Ich schlendere durch enge Gassen, vorbei an asymmetrischen, terracottafarbenen Häusern, steige eine verwinkelte Treppe hinauf und lerne so ganz nebenbei das Dorf kennen. Und darin: Ein spannendes Weingut neben dem nächsten. Denn was viele Winzerinnen und Winzer aus den Terroirs um La Liviniere und Minerve herauszuholen wissen, steht in keinem Verhältnis zu ihrer geringen Bekanntheit in Deutschland. Vom schweren Rotwein, über intensive Weiße und Rosés bis hin zu knackig frischen Naturweinen ist hier alles vertreten. Einzig mit den Schaumweinen tut man sich beim hiesigen Klima etwas schwer und überlässt das lieber den Kolleginnen und Kollegen in nördlicheren Gefilden.
Um mir mein Glas nicht mit Rotweinresten zu verunreinigen, laufe ich den Kurs gleich zweimal, verkoste hier und da und komme mit den Menschen ins Gespräch. Ich lerne ein britisches und ein irisches Ehepaar kennen, treffe eine Kanadierin, eine deutsche Familie und die einen oder anderen Niederländer. Wen ich allerdings nicht treffe, sind die Siraner selbst.
Der Bürgermeister als Hähnchenbrater
„Da steht uns noch ein gutes Stück Arbeit bevor“, sagt Pierre mir beim Abendessen. „Das Fest wurde großartig angenommen, wir überlegen schon, uns das Konzept patentieren zu lassen. Aber die Besucher waren zu 95 Prozent Zugezogene und Touristen. Ich kann das zwar nicht verstehen, aber ich sage dir eins: So schnell geben wir nicht auf“, lacht er. Immerhin: Den Bürgermeister des Dorfes, ein hervorragender Brathähnchen-Brater, wie mir an diesem Abend wohlschmeckend demonstriert wird, haben sie schon auf ihrer Seite. Integration hat eben immer auch zwei Seiten; diejenigen, die sich integrieren wollen, aber eben auch diejenigen, die die Integration zulassen müssen. Funktionieren kann das nur über einen Dialog. Und Angebote dazu gibt es in Siran mehr als genug. Spätestens im nächsten Jahr, denn die nächste ‚fête du vin‘ ist bereits in Planung und wird am 3. August wieder zahlreiche Besucherinnen und Besucher aus aller Herren Länder anziehen. Mein Flug ist schon gebucht!