Feuer, Farmen, Panorama – Auf Trendjagd in New York

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TEXT | FOTOS Nick Pulina

Anderthalb Stunden nach dem Abflug bekomme ich die ersten Mac&Cheese meiner Reise serviert. Das Gericht, das mich müde aus dem aufgewärmten Aluschälchen anlächelt, ist längst nicht nur ein zeitloser amerikanischer Klassiker. Es ist auch ein Trendgericht, das gerade in den angesagten Foodie-Hotspots New Yorks einen regelrechten Run erlebt. Vom kleinen Imbiss bis zum hochdekorierten Spitzenlokal: Mac&Cheese sind, obwohl nie so recht verschwunden, überall. Wie passend, denke ich. Denn genau das ist meine heimliche Mission auf dieser Reise: Ich möchte den größten kulinarischen Trends der Stadt auf den Zahn fühlen. Erfahrungsgemäß breitet sich jede der New Yorker Moden zuverlässig einige Jahre später auch bei uns aus und daher kann es ja nicht schade, schon frühzeitig einen Blick in die Kristallkugel zu werfen. Abgesehen von den allseits präsenten Mac&Cheese, dem rätselhaften Revival des Caesar Salads und den seit meiner letzten New-York-Reise im Jahr 2019 schier unermesslich gestiegenen Preisen habe ich vor allem diese vier Trends ausmachen können:

1. Die New Yorker essen auf der Straße

Als ich mich auf den Weg durch Manhattans Südosten mache – man hatte mir ein erstklassiges Ramen-Restaurant auf der Clinton Street empfohlen –, fallen mir als erstes die Carport-artigen Holzverschläge ins Auge, die vor vielen Restaurants auf die Straße gebaut wurden. Ich erinnere mich, dass es während der Pandemie auch in Deutschland diese improvisierten Terrassen gab, um im Zuge der Schutzmaßnahmen mehr Gäste bewirten zu können. Bei uns wurden sie mit dem Ende der Pandemie größtenteils wieder abgebaut. Nicht so in New York. „Ganz im Gegenteil“, erklärt mir ein lokaler Gastronom, „es sind nach der Pandemie sogar noch mehr geworden. Vorher hatte die Stadt diese Art von Außenplätzen nicht erlaubt, weil sie die Parkplatzkapazität verringern. Während COVID haben dann aber alle gemerkt, wie schön es sein kann, draußen zu sitzen, selbst im Herbst. Jetzt werden sie fast das ganze Jahr über genutzt.“ Allein auf meinem Weg zu Ivan Ramen, das dem einen oder der anderen auch wegen der Chef’s Table-Folge auf NETFLIX ein Begriff sein könnte, laufe ich an einem Dutzend der Sitzplatz-Erweiterungen vorbei. Meine Portion von Ivan Orkins legendären Chicken-Paitan-Ramen mit 24 Stunden lang gerösteter Tomate nehme ich aber doch lieber stilecht am Tresen des hoffnungslos überfüllten Restaurants ein. Weder der allgemeine Lärmpegel noch die Ellbogen meiner etwas unbeholfen agierenden Sitznachbarn vermögen es, meine Nudelsuppenseligkeit zu mindern. Allzu trendy sind Ramen hier zurzeit zwar nicht, waren es aber noch bis vor wenigen Jahren.

2. Die New Yorker essen frisch gegrillt

Dass das Barbecue eine der wichtigsten Grundsäulen der US-amerikanischen Esskultur darstellt, ist nichts Neues. Dass zahlreiche New Yorker Gatronom:innen allerdings vor einiger Zeit damit angefangen haben, das Essen direkt über offenem Feuer zu garen, ist  in diesem Ausmaß etwas Neues. Und nachdem am nächsten Tag schon mein Mittagessen aus einem mit über offenem Feuer gegarten Ochsenschwanz, Kochbanane und Mac&Cheese belegten Sandwich des Trend-Imbisses Datz Deli – nicht zu verwechseln mit der Heimat des berühmten Höhepunkts aus Harry & Sally – bestand, begebe ich mich am Abend in das vergleichsweise junge Restaurant ILIS im nördlichen Brooklyn. Das vor ziemlich genau einem Jahr von Mads Refslund, einem der NOMA-Gründer, eröffnete Lokal beeindruckt mich schon beim Betreten. Keine Wände behindern meinen Blick, als ich durch die knapp vier Meter hohe Tür trete und in einem einzigen, riesigen Raum stehe. Vor mir eine Bar, links dahinter zahlreiche Tische im Schummerlicht, rechts, unter einem riesigen von der Decke hängenden Block installiert, die große, offene Küche. Noch während ich an meinen Tisch geführt werde, sehe ich, wie einem der Köche  aus einer Senke an der Wand munter lodernde Flammen entgegenschlagen. Hier bin ich richtig, denke ich, und entscheide mich für das Market Menu. Im Gegensatz zum großen Degustationsmenü steht es mir hier frei, wieviele Gänge ich essen möchte. Der Clou: Es gibt keine Speisekarte, zumindest nicht im herkömmlichen Sinn. Stattdessen begrüßt mich einer der Köche und fährt einen Wagen mit frischen, rohen Produkten an meinen Tisch. Jedes dieser Produkte, erklärt er mir, stehe für einen der Gänge und ich dürfe mir nun so viele Produkte in mein Körbchen legen, wie ich möchte. Ich entscheide mich für eine beeindruckend frische Flunder, die mir sowohl als Sashimi als auch über offenem Feuer gegrillt serviert wird, ein Stück Big-Eye-Tuna, das als frisches und als dry-aged Sashimi mit weißem Trüffel den Weg auf meinen Teller findet, die gegrillte Favabohne mit Seeigel und die ebenfalls über dem Feuer gegrillte Brust der Khaki-Ente, die mir samt einer an der Kralle gegrillten Krokette serviert wird. Da ich meine Neugier nicht zügeln kann, ordere ich auch noch die fast unverschämt großen, in einer Schweineblase gegarten Miesmuscheln. Die drei Snacks am Anfang sowie die beiden Desserts gehen sozusagen ‚aufs Haus‘ und durch die Zweiteilung meiner Flunder verspeise ich schlussendlich 12 statt fünf Gänge. Die Restaurantführung am Ende des Abends erlebe ich in einem glücklichen Dämmerzustand und bin mehr als beeindruckt von diesem kulinarischen Erlebnis. In der nächtlichen New Yorker Luft meine ich, bereits den zarten Duft des nahenden Auszeichnungsregens riechen zu können.

3. Die New Yorker essen regional

Man mag es kaum glauben, aber selbst in einer der kosmopolitischsten Metropolen der Welt sind Nachhaltigkeit und Regionalität zu wichtigen Grundbausteinen der Esskultur geworden. Ein absoluter Vorreiter des inzwischen auch bei uns als ‚Farm to table‘ bekannten Konzepts, bei dem Köchinnen und Köche hauptsächlich Produkte verarbeiten, die aus dem eigenen Anbau des Restaurants stammen, ist der gebürtige New Yorker Dan Barber. Mit seinem berühmten Restaurant Blue Hill at Stone Barns vor den Toren der Stadt hat Barber der Farm-to-table-Küche den Weg in die Spitzengastronomie geebnet. Der Ausflug nach Stone Barns ist mir zu weit, zumal er, typisch USA, ohne Auto auch gar nicht zu bewältigen wäre. Ein Glück, dass Barber mit dem nicht viel weniger gerühmten Family Meal at Blue Hill auch eine Dependance am Washington Square führt. Hier finde ich mich zum entspannten Sonntagsessen im Kreise der Familie ein. So ist es jedenfalls gedacht, wenn das Restaurant am Sonntagmittag ausnahmsweise ein exklusives Drei-Gänge-Menü serviert, das aus unterschiedlichen, auf Platten, Tellern und in Schüsseln angerichteten Speisen besteht, die ganz nonchalant in die Mitte des Tisches gestellt werden. An diesem Sonntag gibt es, nach einer Auswahl roher Gemüse von der namensgebenden Blue Hill-Farm und dem lokalen Farmers Market am Union Square, ein Steak vom Grass-Fed-Beef aus eigener Aufzucht, gegrillte Tomatensteaks, Röstkartoffeln, ein bisschen Rahmspinat und ein reichhaltiges Fladenbrot aus Buchweizen mit selbst gemachter Weidemilchbutter. Als Dessert wird mir ein einfacher Pappbecher mit  hocharomatischem Heidelbeersorbet, Granola und goldenen Himbeeren hingestellt. Das ist alles so aufrichtig unaufgeregt, dass ich mich sogar ohne Begleitung so fühle, als wäre ich bei Freunden zum privaten Sonntagsessen eingeladen. Es ist am Ende die Qualität dieses im Grunde einfachen Essens, die mich wirklich berührt. Die vor Aroma nur so strotzenden Tomaten, Schoten und Salate, die ich als Vorspeise bekomme, deuten schon voraus, von welch hervorragender Qualität das servierte Rindfleisch ist. Vor lauter Staunen denke ich nicht einmal daran, mein Tannenzäpfle auszutrinken. Denn beim Bier sieht man es hier nicht so eng mit der Regionalität – was ein Glück!

4. Die New Yorker bewundern ihre Stadt gerne von oben

Nachdem ich mich gestern mit einem Honig-Sriracha-Bagel von Liberty Bagels, einem Stück des sagenumwobenen Cheesecakes von Junior’s, hervorragenden Dim-Sum aus China Town und dem einen oder anderen Old Fashioned in der nicht weniger sagenumwobenen Jazzbar Birdland durch das touristische Zentrum der Stadt probiert habe, steht heute ein Dinner an einem ganz besonderen Ort an: in der 63. Etage des Art-Deco Wolkenkratzers 70 Pine. Hier liegt das hochdekorierte Gourmetrestaurant SAGA, das nicht nur mit Küche und Service auf Top-Niveau punkten kann, sondern, und das zieht die New Yorker zurzeit ganz besonders an, das eine Terrasse mit einem der wohl besten Ausblicke auf die Metropole bietet. Als ich den Aufzug verlasse, stehe ich direkt vor einer Bar, an der ich mir einen Begrüßungsdrink bestelle, bevor mich eine der freundlichen Servicekräfte einlädt, es mir erst einmal auf der Terrasse bequem zu machen. Das tue ich selbstverständlich gern und freue mich, dass mir auch die ersten Snacks nach draußen gebracht werden. „Wissen Sie“, komme ich mit einer New Yorkerin ins Gespräch, die dort ebenfalls ihren Begrüßungsdrink einnimmt, „wir haben unsere Panorama-Bars lange genug den Touristen überlassen. Inzwischen habe ich das Gefühl, das wir sie uns nach und nach zurückerobern. Man muss halt nur die richtigen Adressen kennen.“ Der Ausblick von hier jedenfalls ist großartig und kann wohl nur noch vom Aussichtspunkt des One World Trade Centers überboten werden. Ich genieße also meinen Cocktail und lasse mich im Anschluss nur widerwillig hinein geleiten, wo ich über die nächsten zwei Stunden ein sehr gutes Vier-Gänge-Menü serviert bekomme, in dem alles irgendwie mit Mais zu tun hat. Es schmeckt hervorragend, doch so richtig will der Funke nicht überspringen. Vielleicht sind es auch immer noch der Panoramablick draußen und das Basquiat-Gemälde drinnen, die mich ablenken. Glücklicherweise habe ich am Ende des Menüs noch immer eine halbe Flasche Wein übrig. Diese, so hatte ich insgeheim gehofft, darf ich in aller Seelenruhe auf der Terrasse austrinken. Draußen unterhalte ich mich mit ‚meiner‘ sympathischen Servicekraft über ihren Weg aus den Südstaaten nach New York,  ihr anstehendes Medizinstudium und die bevorstehende Wahl. Als Wein und Unterhaltung versiegt sind, führt sie mich eine Etage nach oben, wo ich leicht irritiert feststelle, dass sich die ganze Zeit eine belebte, aber ungemein gemütliche 360°-Rooftopbar über meinem Kopf befand. Ich bestelle einen Old Fashioned und drehe meine Runden. Von hier aus sehe ich alles, die ganze Stadt von Staten Island über die Freiheitsstatue, Brooklyn und Queens bis zurück nach Manhattan. One World Trade ist nichts dagegen. Und während ich noch denke, dass ein Old Fashioned hier weitaus günstiger ist als das Ticket für die meisten Aussichtsplattformen der Stadt, treffe ich auf meine Gesprächspartnerin von der Terrasse: „Sehen Sie“, zwinkert sie mir zu, „Sie müssen nur die richtigen Adressen kennen.“

Als ich am nächsten Abend im Flugzeug Richtung Frankfurt sitzend einen Blick auf die Speisekarte in meinem Vordersitz werfe, muss ich lachen. Nach einer Woche voller Trends und Moden freue ich mich nun auch aufrichtig auf das Flugzeugessen: Es gibt Schweinebraten.

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Schon allein für diesen Ausblick lohnt sich ein Besuch im SAGA