Wie erging es in den letzten Monaten einem Menschen, dessen Beruf und Berufung die Vermessung der deutschen Spitzengastronomie ist?
Christoph Wirtz, Chefredakteur des Gault&Millau Restaurantguide Deutschland, erzählt uns, wie er kulinarisch durch den Lockdown gekommen ist – und ob die Zeit unser Verhältnis zum Essen verändert hat.
G&M: Herr Wirtz, wie haben Sie als jemand, der seinen täglichen Kalorienbedarf üblicherweise in Spitzenrestaurants deckt, den langen Lockdown überhaupt überlebt?
Christoph Wirtz: Danke der Nachfrage, die regelmäßige Kalorienzufuhr war bedauerlicherweise kein Problem. Ich habe gekocht.
Erinnern Sie sich an das schlimmste kulinarische Debakel, das Sie in den letzten Monaten in der eigenen Küche verursacht haben?
Richtige Katastrophen sind ausgeblieben. Ich koche allerdings auch ziemlich idiotensicher: Pasta mit schnellen Saucen, mal was Geschmortes, ein grünes Thaicurry…
Was halten Sie von Fine-Dining-Boxen? Wird es die auch in Zukunft geben?
Sie ersetzen keinen Restaurantbesuch, heben aber nicht selten das kulinarische Niveau am heimischen Herd dramatisch. Es ist toll zu sehen, wie die Angebote im Laufe der Zeit immer ausgereifter wurden, die Abläufe immer reibungsloser. Nichts, was mal gut war, verschwindet völlig, nur weil man es vermeintlich nicht mehr braucht. Schallplatten und Bücher gibt’s ja auch noch.
Worauf freuen Sie sich persönlich am meisten, wenn das soziale und kulinarische Leben in Deutschland wieder zur alten Normalität zurückkehrt?
Auf die ganze Bandbreite kulinarischer Handwerkskunst, man hat die eigene Stümperei dann doch irgendwann satt. Im Allgemeinen: Diese spezielle Geräuschkulisse eines belebten Restaurants, das leise Klappern, Gläserklingen und Murmeln, das Korkenploppen und Lachen. Entspannte, vergnügte Menschen auf einem Haufen. Herrlich!
Sollten wir wider Erwarten doch noch einmal in einen großen Lockdown gehen müssen …
Sind Sie wahnsinnig? Malen Sie hier bloß nichts an die Wand!
… welches Fertiggericht würden Sie hamstern?
Ich habe in den vergangenen Jahrzehnten keine Fertiggerichte zu mir genommen und plane das auch in den nächsten nicht zu tun. Außerdem neige ich nicht zu Hamsterkäufen. Was bei mir immer vorhanden ist: Käse, erstklassiger Thunfisch in Olivenöl, gute Wurst im Glas, Pasta und allerlei Gewürze. Zusammen mit einer Kiste Wein kommt man damit notfalls übers Wochenende.
Ursula Haslauer (Executive Publisher Gault&Millau Deutschland) hat uns berichtet, dass sie während des Lockdowns eine passable Pizzabäckerin geworden ist. Ich selbst habe mein Ramen-Rezept perfektioniert, Tausende von Menschen haben zum ersten – und wahrscheinlich letzten – Mal in ihrem Leben Sauerteig angesetzt: Welchem Gericht haben Sie sich in der Pandemie mit besonderer Hingabe gewidmet?
Ich habe in den Sozialen Medien mit großer Bewunderung beobachtet, welche kulinarischen Triumphe zuhause gefeiert wurden. Ich gestehe: Da kann ich nicht mithalten. Ich schiebe ein Huhn in den Ofen, dämpfe ein Kilo Vongole in Weißwein, kleckere Schnittlauchmayonnaise über lauwarmen Spargel. Dazu gibt’s ein Stück Baguette und eine ordentliche Flasche Wein, fertig.
Meinen Sie, dass durch die Notwendigkeit, sich täglich selbst mit der Zubereitung des eigenen Essens auseinanderzusetzen, ein neues Bewusstsein für gute Lebensmittel und deren Produktion entstanden ist?
Dass hoffe ich. Und eigentlich kann es ja auch gar nicht anders sein. Andererseits mache ich mir keine Illusionen – wir werden im letzten halben Jahr nicht plötzlich zu einem Volk von Bonvivants geworden sein. Es gibt zum einen eine ganze Menge Menschen, deren Lebensumstände die Beschäftigung mit Rohmilchkäse verbieten. Und zum anderen beobachte ich – aus der Ferne – immer noch genug Idioten in den oberen Gehaltsklassen, die sich über die Preise beim Biometzger mokieren. Es gibt in Deutschland nicht wenige Kieferorthopäden, die schlechter essen als der durchschnittliche neapolitanische Hafenarbeiter.
Wie geht es den Restaurants nach dem Lockdown?
Das werden wir sehen. Und pauschal kann man das auch nicht beantworten. Es werden sicher manche Einzelkämpfer aufgeben müssen. Gerade die, die noch nicht lange dabei sind, kein Polster aufbauen konnten. Wobei das in der Gastronomie sowieso schwierig ist. Das Geschäft ist kostenintensiv, die Kapitaldecke in aller Regel dünn, reich wird da kaum einer.
Haben die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen geholfen?
Die Kurzarbeit sicher, die Überbrückungshilfen ebenso. Leider kamen letztere viel zu spät an, der deutsche Hang zur Überregulierung, zur Einzelfallprüfung und zur Risikovermeidung hat manchen die Existenz gekostet.
Glauben Sie, dass jetzt ein Boom in der Gastronomie einsetzt?
Nach der Krise werden die Restaurants, die es durch die schwierige Zeit geschafft haben, von einem enormen Nachholbedürfnis der Gäste profitieren. Die Menschen haben Sehnsucht, viele haben vielleicht erst in den letzten Monaten so richtig begriffen, welche kulturelle und soziale Bedeutung die Gastronomie besitzt. Hinzukommt: Viele Gäste werden noch eine ganze Zeit lang zurückhaltend sein, wenn es um Fernreisen, Kreuzfahrten oder ähnliches geht. Stattdessen geben sie ihr Geld hoffentlich wieder im Restaurant aus. Je mehr, desto besser!
Das Interview führte Nick Pulina
Foto: ©Philipp Horak