Liebe Leserin, lieber Leser,
wie verrückt ein Jahr mit den Jahreszeiten spielen kann, ließ sich besonders eindrucksvoll bei der diesjährigen Weinlese nachempfinden. Spätfröste im Frühjahr, ein Sommer ohne Sonne und dafür mit viel Regen ließ mehr Pilze im Weinberg als in den heimischen Wäldern sprießen und somit auf nicht allzu viel Gutes hoffen. Doch allen düsteren Prognosen zum Trotz spricht man jetzt bei rund 13 Prozent Ertrags-Minus auf europäischer Ebene von ganz zufriedenstellenden Ergebnissen nördlich der Alpen – und südlich sogar von herausragenden Qualitäten.
So ist in den deutschen Weinbauregionen der Ernte-Ertrag insgesamt zwar im langjährigen Mittel, teils ist aber auch von Kleinsterträgen bei ausgezeichneter Qualität die Rede wie etwa bei Julian Hubers Chardonnay im südbadischen Malterdingen, während Horst Sauer an der Altmain-Schleife in Escherndorf von einer extrem selektiven Ernte bei seinem geliebten Silvaner berichtet und hinzufügt, dass so eine zeitaufwendige wie arbeitsintensive Ernte gar niemand „vor allem die Jungen überhaupt nicht“ mehr gewöhnt ist, weil man durch die letzten Jahre zu verwöhnt sei.
Gert Aldinger im Remstal vor den Toren Stuttgarts, geographisch zwischen den Kollegen gelegen, bestätigt beide Einschätzungen und fügt gelassen hinzu: „Die Aldingers werden auch dieses Jahr nicht enttäuschen.“
Ganz zufrieden ist auch das Bio-Urgestein Alain Javillier im schönen Örtchen Meursault an der Côte de Beaune. Feine Säurewerte und eine weitestgehend gesunde Ernte lassen auf einen klassischen Jahrgang hoffen. „Im Vergleich zu noch vor ein paar Jahren haben wir zurzeit ganz schön Glück!“
Anselme und Guillaume Selosse wirkten einige Tage vor der Lese Ende September ganz und gar tiefenentspannt, als die meisten Champagner-Produzenten schon mit der Ernte abgeschlossen hatten. Und der Präsident des Südtiroler Weinkonsortiums, Andreas Kofler aus Kurtatsch, feiert mit 2021 sogar einen neuen Jahrhundertjahrgang!
Beim Superlativ „Jahrhundertjahrgang“ heißt es allerdings, etwas vorsichtig zu sein. Gefeiert werden viele neue Jahrgänge traditionell gerne schon vorab, vor allem von den Weinhändlern. In den letzten zwölf Jahren spricht man mit 2009, 2010, 2015, 2016, 2018 und 2020 schon von sechs Jahrhundertjahrgängen allein in Bordeaux, in Piemont kommen zusätzlich noch 2013 und 2014 dazu, das wären dann schon neun, also ein stattliches Dreiviertel dieses Jahrgangs-Dutzend.
So sind Jahrgangsprognosen immer ein Stück weit Kaffeesatz-Leserei, oder auch ganz einfach Marketing-Getöse, vor allem vor dem Aspekt des individuellen Geschmacks und der so wichtigen Bekömmlichkeit. Denn ob ein Jahrgang nun wirklich groß ist, entscheidet sich oft erst Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte später, und ob die hohen Alkoholgrade der letzten Jahre hierbei wirklich in die richtige Richtung zeigen, steht bereits jetzt in Frage.
Unter diesem Aspekt bietet der 2021er Jahrgang vor allem in den deutschen Anbaugebieten mit moderaten Mostgewichten für Weingenießer, deren wichtigster Moment Eleganz und Rasse ist, wirklich viel Anlass zur Freude.
Einen guten Genuss wünscht Ihnen
Ihr Otto Geisel
Foto: unsplash