Eine Qualität, über die die Speisekarten der Spitzenrestaurants unserer Tage nicht mehr selbstverständlich verfügen, ist eine eigentlich sehr naheliegende: Animierend zu wirken, Vorfreude zu wecken. Wen auch immer prosaische Lyrik nach dem Schema „Seegurke / Schafgarbe / Molke“ in Wallung zu vermag bringen – ich gehöre nicht dazu.
Wie anders lasen sich da doch die Menüs der ersten Spitzenköche hierzulande, der Witzigmanns und Winklers, Schönberners und Kellers, Eiermanns und Wodarz‘: „Artischockenböden mit getrüffelter Gänseleber“, „Frische Krebsschwänze in leichter Steinpilzsabayon“, „Pot-au-feu vom Hasenrücken mit Sauce Bernaise“… Herrlich!
In der vergangenen Woche konnte man solche und ähnliche Köstlichkeiten in alten Speisekarten bestaunen – und die zugehörigen alten Recken gleich mit. Aus Anlass der Eröffnung einer Online-Ausstellung zu Kochkunst und Tafelkultur in der Bundesrepublik Deutschland der 1970er und 1980er Jahre („Wolfram Siebeck und das Deutsche Küchenwunder“) waren sie zu einem Klassentreffen der Großmeister zusammengekommen. Eingeladen hatte der Historiker Josef Matzerath, dem die Erschließung des Nachlasses Wolfram Siebecks zu verdanken ist, die sich nun auf der Website der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden bestaunen lässt.
Großartig, zu sehen, wie weit wir gekommen sind; lehrreich auch, sich auf manches zu besinnen, was früher keinesfalls schlechter war! Dass die wichtigste kulinarische Sammlung der Republik nun ausgerechnet in Dresden entsteht – dem „östlichsten Barockzoo Deutschlands“ (Siebeck) – ist besonders schön. Es tut sich was! Und es ist auch kein Zufall, wie man schnell erkennt, wenn man ebenda die historischen Speisekarten des sächsischen Hofes betrachtet, sich erinnert, dass Karl Friedrich von Rumohr hier sein berühmtes Werk vom „Geist der Kochkunst“ verfasste. Die Geschichte der deutschen Genusskultur ist tief und vielfältig – entdecken wir sie!
www.slub-dresden.de/entdecken/kulinarische-sammlung/nachlass-wolfram-siebeck
Ihr
Christoph Wirtz
Chefredakteur Gault&Millau Restaurantguide
Foto: Wolfram Siebeck, 1974
(SLUB Dresden, Nachlass Wolfram Siebeck, unbekannter Fotograf)