Angus, Kobe, Miyazaki oder: vom Leben mit dem Fleisch, von Tod und Verwesung, von Leibspeisen und göttlichen Fleischern. Und von der Frage, ob man ein Steak wirklich 200 Tage abhängen lassen sollte.
Der Altar ist nicht zu übersehen, die Kirche des Fleisches zeigt, was sie hat. Ein Abend in Paris, Rue Marbeuf. Ein in Gold und Marmor und Jugendstilornamenten gefasster Raum, gläserne Decke, schillernde Pracht. Die Pariser Beef Bar ist tatsächlich eines der schönsten Restaurants, das man besuchen kann. Als besondere Sehenswürdigkeit fungiert der Fleischreife-Kühlschrank, ein Heiligenschrein, der alle Stücke spielt und jeglichen Luxus vorhält, den man sich in dem weiten Feld zwischen Angus und Wagyu vorstellen kann. Steaks werden da präsentiert wie Kunstwerke oder Ikonen; man erwartet beinahe, dass Damien Hirst hinter dem Vorhang herausspringt und KUNST! brüllt. Ist es aber nicht. Es ist Fleisch. Schlicht, aber keineswegs einfach.
Ähnliche Kultstätten finden sich längst in aller Welt – im Berliner Grill Royal (wo die Aussicht auf Promis das Publikum freilich mehr interessiert als der Reifekühlschrank); im Born & Bred in Seoul (wo Jeong Sangwon ein luxuriöses Degustationsmenü ausschließlich mit verschiedenen Cuts vom Hanwoo-Rind bestreitet); im Carcasse, dem Haubenrestaurant des belgischen Starfleischers Hendrik Dierendonck, der ganze Fleischteile am Haken per Schienensystem direkt vor die offenen Münder der Restaurantkundschaft schieben lässt (vor dem Verzehr werden sie allerdings noch einmal in die Küche gebracht). Fleisch ist, gerade in Zeiten der bewussten Ernährung, des ökologisch motivierten Veganismus und der skandalträchtigen Billigstschlachtungen, zum möglicherweise ultimativen Luxusprodukt avanciert.
In Deutschland werden heute rund 60 Kilogramm Fleisch pro Kopf und Jahr konsumiert, davon fast 40 Kilogramm Schweinefleisch, etwa 12 Kilogramm Geflügel und fast neun Kilogramm Rindfleisch. Frauen essen im Schnitt deutlich weniger Fleisch als Männer, mit dem Bildungsniveau sinkt der Fleischkonsum. Tatsächlich hat der Mensch – nicht nur in Deutschland – eine existenzielle, bisweilen geradezu spirituelle Beziehung zum Fleisch. Religiöse Nahrungsmitteltabus und Speisevorschriften sind fast immer an den Konsum von Fleisch gebunden, und seit Urzeiten lautet das liebste Argument bei Grillfachgesprächen und Veganerbekehrungsversuchen, dass der Mensch nur Mensch sei, weil er das Fleischessen erfunden habe. Das ist nicht ganz falsch, aber auch nur halb richtig. Tatsächlich gibt es gesicherte Hinweise darauf, dass der Mensch auf dem Weg zum Homo sapiens vom reinen Pflanzenkonsumenten zum Allesesser wurde und sich dadurch evolutionäre Vorteile verschaffte. Der Fleischkonsum veränderte aber nicht nur den Gehirnstoffwechsel, er hatte vor allem auch soziale Effekte. Der Mensch wurde vom Sammler zum Jäger und erfand erste Waffen. Bald wurde er im Umgang damit so erfolgreich, dass er sich etwas überlegen musste, um das viele Fleisch schneller zu verarbeiten oder länger haltbar zu machen, was in Arbeitsteilung und Lagerfeuer mündete. Am Ende war es wohl eher die Zubereitung von Nahrungsmitteln, die den entscheidenden Fortschritt brachte: Man musste nicht mehr halbe Tage auf rohem Getreide herumkauen, um seine Kalorienbilanz zu sichern, und erschloss sich so ganz neue Quantitäten an Tagesfreizeit. Am Anfang der modernen Menschheit stand tatsächlich: Fleisch, Feuer, Zeit, Gemeinschaft. Die Zubereitung des erlegten Tieres war auch eine spirituelle Erfahrung, eine Verbindung mit dem Jenseits: Der Rauch des Lagerfeuers steigt direkt in den Himmel und verbindet Menschen und Götter.
Nun hat sich der menschliche Fleischkonsum seit der Steinzeit doch deutlich gewandelt. Moden kamen, Moden gingen. Wir haben den Mettigel erlebt, das komplett durchgebratene Steak, die Wiedergeburt der Grillkunst aus dem Geiste der baskischen Asadores. Heute regiert die unendliche Vielfalt zwischen Filet und Onglet, Fast und Slow, BBQ und Pinzettenküche, blutjung und gereift. Fleischer wie der Wormser Jürgen David oder der erwähnte Hendrik Dierendonck sind zu Popstars und Promis avanciert.
Die prägendste Entwicklung der vergangenen zehn Jahre war aber sicher die Wiederentdeckung des gut abgehangenen Rindfleischs. Nennen Sie es gerne Dry Aged Meat, auch wenn es sich um eine uralte Prozedur handelt. Der Prozess der Fleischreifung beginnt gleich nach der Schlachtung mit der Totenstarre, die das Fleisch zäh werden lässt, weil die Muskeln nicht mehr mit Sauerstoff und Energie versorgt werden, sich Milchsäure anhäuft und die Fasern kontrahieren. Dieser Prozess macht die Rindfleischreifung unerlässlich. Seit den Siebzigerjahren geschieht dies der Einfachheit halber meist im vakuumierten Folienbeutel: Unter Luftabschluss hemmen Milchsäurebakterien schädliche Mikroben, machen Fleischfasern zarter, verursachen aber unter Umständen auch einen metallisch-säuerlichen Geschmackston. Die Trockenreifung dagegen, wie sie bis zur Erfindung des Plastikbeutels gepflegt wurde, basiert im Wesentlichen auf Wasserentzug und enzymatischen Prozessen: große Fleischteile werden, meist am Knochen, unverpackt im Kühlraum bei etwa 1 Grad Celsius, geringer Luftfeuchtigkeit und guter Luftumwälzung für mindestens drei Wochen gelagert. Die Oberfläche trocknet dabei aus, darunter verändert sich die Muskulatur: Eiweiß spaltende Enzyme, sogenannte Proteasen, machen das Fleisch mürbe, bisweilen unterstützen auch Edelschimmelpilze die Reifung, wodurch zusätzliche aromatische Effekte entstehen können.
Es handelt sich, man muss das so deutlich sagen, um einen Prozess der kultivierten Verwesung, den der hessische Fleischer Dirk Ludwig so beschreibt: „Nach einiger Zeit bildet sich im Kühlhaus ein Duft, der Steakliebhaber schwärmen lässt. Es riecht nach Schinken, nach Moschus, frisch gebackenem Hefezopf, Raureif und verschwitzten Wollsocken, alles gleichzeitig. Das Dry Aged Fleisch ist schwarz wie Blutwurst und hart wie Brotkruste, darüber wuchert ein feiner Flaum aus Schimmel.“ Der Geschmack des derart gereiften Fleisches wird nussiger, buttriger, fleischiger als der von vakuumgereiftem Fleisch. Je länger der Reifeprozess, desto komplexer, aber auch gewöhnungsbedürftiger wird der Geschmack, es kommen Trüffelund Käsenoten dazu, ein sehr starkes Umami-Geschmäckle. Gleichzeitig verliert das Fleisch erheblich an Flüssigkeit, was seine Brateigenschaften verbessert. Zuletzt fand ein weltweites Trockenreif-Wettrüsten statt. Im Restaurant Eleven Madison Park in New York wurde schon 140 Tage gereiftes Steak serviert und auch das Noma in Kopenhagen hat mit seinen sechs Monate abhängenden, 13 Jahre alten Milchkühen gekonnt für Aufmerksamkeit gesorgt.
„Nach einiger Zeit bildet sich im Kühlhaus ein Duft, der Steakliebhaber schwärmen lässt. Es riecht nach Schinken, nach Moschus, frisch gebackenem Hefezopf, Raureif und verschwitzten Wollsocken, alles gleichzeitig. Das Dry Aged Fleisch ist schwarz wie Blutwurst und hart wie Brotkruste, darüber wuchert ein feiner Flaum aus Schimmel.“
Der hessische Fleischer Dirk Ludwig beschreibt den Prozess der kultivierten Verwesung.
Man muss nicht besonders heikel sein, um das bedenklich zu finden. Der italienische Mikrobiologe Marco Gobbetti, Professor an der Universität Bozen, sieht die zunehmende Begeisterung für trockengereiftes Fleisch durchaus zwiespältig. Tatsächlich sei vielen Produzenten und Köchen nicht recht bewusst, welche gesundheitlichen Risiken diese Techniken mit sich bringen, vor allem, wenn sie in nichtspezialisierten Bereichen wie Restaurantküchen durchgeführt werden. Gobbetti: „Man muss sehr genau wissen, was man tut. Im Prinzip senkt das Reifen von Fleisch – wenn die Bedingungen stimmen – das Risiko gesundheitlicher Probleme. Die Reifung bei geringen Temperaturen unter hygienischen Bedingungen verringert den Wassergehalt und vermindert dadurch das Risiko von Verderbnis oder Krankheit. Wenn die Bedingungen nicht stimmen, besteht aber das Risiko von Geschmacksverfälschungen, Verderbnis und gesundheitlichen Problemen.“ Fleischreifung und Fermentationsprozesse können aromatische und gesundheitliche Vorteile mit sich bringen, das Gegenteil ist aber immer nur einen falschen Handgriff entfernt, es hört auf klingende Namen wie Listeria monocytogenes oder Escherichia coli, Salmonella oder Campylobacter.
Sobald traditionelle Praktiken aus dem spezialisierten Fachbereich in den Supermarktalltag diffundieren, wird dieses Problem besonders schlagend. Nichts gegen Supermärkte, aber der Reifekühlschrank im Shoppingcenter braucht einen gut geschulten Fleischermeister. Und dabei haben wir noch gar nicht von rohem Fleisch geredet, von Mett und Tatar, das jeweils auch in durchaus zweifelhafter Façon erhältlich ist, wobei das Mettbrötchen am Bahnhofskiosk nicht schlecht sein muss, sofern der Bahnhofskiosk genügend Umsatz macht, um ständig frische Ware vorzulegen. Mett ist übrigens ein Produkt der industriellen Revolution: Als die freie Mahlzeit für viele Fabrikarbeiter immer geringer wurde, mussten schnellere Proteinquellen erschlossen wurden. Braten dauert, also: Hackepeter. Die bis 2007 in Deutschland geltende „Hackfleischverordnung“ (genauer: „Verordnung über Hackfleisch, Schabefleisch und andere Erzeugnisse aus rohem Fleisch vom 16. Juli 1965“) setzte der Produktion und dem Verkauf von Mett lebensmittelhygienisch enge Grenzen, EU-weit geltende Regelungen sind dagegen nicht auf den Konsum von rohem Schweinehackfleisch ausgelegt – die deutschen Lebensmittelbehörden sichern die Qualität freilich sehr konsequent im Stichprobenverfahren.
Aber was reizt uns so am rohen Fleisch oder umgekehrt am endlos gereiften Steak? Die Suche nach dem Echten, Alten, Authentischen mag eine Rolle spielen, eine unbewusste Gegenreaktion zum Jugendwahn vielleicht auch, jedenfalls aber der Gedanke, dass auch die Zeit nach dem Tod eine Phase ist, die der Mensch beherrschen kann. Dry Aged Meat bedeutet eine Konfrontation mit der Vergänglichkeit, die einen durchaus metaphysischen Schauer erzeugt: Das Leben geht auch nach der Schlachtung weiter.
Alles ist vergänglich. Und manchmal schmeckt es ganz einfach hervorragend. Amen.
Text: Sebastian Hofer
Fotos: Klaus Fritsch